Kinderspiel mit Glasperlen
Neue Musik im »raum für kultur«

VON BERNHARD USKE

 

Gesellschaften für Neue Musik gibt es auch in anderen deutschen Großstädten, aber wohl keine mit einem so exklusiven und wahrhaft dem 21. Jahrhundert würdigen Aufführungsort wie ihn die vor kurzem gegründete Frankfurter Gesellschaft für Neue Musik aufweisen kann. Im »raum für kultur«, der das Erdgeschoss des Gallileo-Hochhauses der Dresdner Bank ausmacht, auf drei Seiten von oben bis unten verglast, hat man in der sich gerne groß sehenden Stadt einen Eindruck von Global City. Dem Stiefmütterchen unter den zeitgenössischen Künsten bietet das einen Zugewinn an Urban Image, der exorbitant ist.

Von seiner »company«, der Dresdner Bank, sprach zu Beginn der Kulturorganisator des Hauses, Ralf Suermann. Er war zu Recht »glücklich« und »happy«, dass dieses Ereignis, das sich jetzt einmal in jedem Monat mittwochs wiederholen soll, möglich geworden ist, und schloss: »Anschließend verkauft Ihnen das Ensemble Modern gern ein Glas Wein - und jetzt schalten wir unsere Handys aus und begrüßen Hermann Kretzschmar am Klavier.«

Der spielte seine Komposition Vier Zeichnungen, was eine Art Bilder einer Ausstellung sind. Illustrationen Otto Ubbelohdes zu den Märchen der Brüder Grimm, die der Ensemble-Modern-Pianist aus seiner Kindheit kannte, haben eine Art akustische mémoire involontaire ausgelöst. Diese ergab ein Patchwork aus ruhigen und beschaulichen Klavierklängen und stark ins Geräuschhafte und Dräuende tendierenden Sampler-Verformungen.

Auch Cathy Milliken, Oboistin des Ensemble Modern, steuerte ein Werk für Klavier bei, das ausdrücklich ein Komponieren über das Klavier sein wollte. Kindheitserinnerungen auch hier, wo das große, klingende Möbel dem kleinen Mädchen einst eine eigensinnige Welt aus Tönen bescherte. Nine looks for piano – neun Blicke für Klavier hatten aber auch jede Menge literarischer Verweise, was bei Milliken ja seit ihren Mosebach- und Rose-Ausländer-Vertonungen eine spezifische Komponierhaltung ist.

Letztlich war selbst das dritte Werk des gut besuchten Konzerts, Dietmar Wiesners Algorhythmus-Kanon für zwei Vibraphone, ein Kinderspiel, denn so kalkuliert und systematisch hier durch Rainer Römer und Sven Pollkötter auch eine kanonische Auf- und Überholjagd stattfand - zuletzt war das Ganze eine Bastelarbeit, die Prozesse anstößt, um ihr stupendes Abschnurren zu bewundern. Im Gallileo-Aquarium der Neuen Musik war das vibraphone Glasperlenspiel im Verein mit den auf der Gallus-Anlage geräuschlos vorbeiziehenden Autos und Passanten ideale Ambient-Art. Der erst nach Konzertende verkaufte Wein hätte zu unser aller Zufriedenheit hier bereits wunderbar gepasst.

 

Frankfurter Rundschau
Kultur Rhein/Main
14.04.2004